Der Skandal rund um den Schlachtbetrieb Tönnies geht in die nächste Runde. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass neue Informationen aus Deutschlands größtem Schweineschlacht-Betrieb ans Licht kommen. Eine Zusammenfassung.
Als die ersten Corona-Fälle beim Konkurrenten Westfleisch auftraten, zeigte sich Clemens Tönnies noch optimistisch und selbstsicher. Er lobte seinen Betrieb, in dem täglich 20.000 Schweine geschlachtet werden, als vorbildlich.
Seine Aussagen sollten nur wenig später von der Realität eingeholt werden. Wie sich später herausstellte, kam das Virus eben genau über die Kontakte von Westfleisch in den Betrieb im Kreis Gütersloh – und nicht, wie es Armin Laschet vermutete, aus “Bulgarien oder Rumänien”. Die Aussagen ernteten zu Recht schärfste Kritik.
Laut WDR haben die beiden Infizierten noch zwei weitere Tage im Betrieb mitgearbeitet, obwohl der Konzern bereits davon wusste. Ganz so vorbildlich hätte Tönnies in diesem Fall dann wohl nicht gehandelt.
Wie eine neue Studie des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI), der Uniklinik Hamburg-Eppendorf und des Leibniz-Instituts für Experimentelle Virologie (HPI) nun zeigt, hat es im Konzern einen sogenannten Superspreader gegeben, also eine infizierte Person, die sehr viele weitere Menschen angesteckt hat.
Begünstigt wurde das durch die Arbeitsbedingungen, die bei der Fleischverarbeitung herrschen. Eine geringe Temperatur, starke Luftzirkulation, wenig Frischluft und harte körperliche Arbeit begünstigten die Weiterverbreitung der Viren. Ein Mindestabstand von 1.50 Metern reiche daher laut der neuen Studie bei weitem nicht aus. So könne sich das Virus unter diesen Umständen sogar bei bis zu 8 Metern verbreiten. Trotzdem wurde der Betrieb bereits wieder aufgenommen. Die Studie widerlegt weiterhin, dass die Unterbringung der Arbeiter*innen zum Ursprung des Ausbruchs nur eine geringe Rolle gespielt habe, bei der Weiterverbreitung allerdings eine wichtige Rolle gespielt haben könnte.
Was sind die Konsequenzen?
Mit der Medienaufmerksamkeit wurden auch die arbeitsrechtlichen Mängel und die Zustände kritisiert, die oftmals sogar als menschenverachtend dargestellt wurden.
Die Diskussion und die Gefahr einer weiteren Verbreitung des Corona-Virus hat auch die Politik auf den Plan gerufen. Diese Woche hat das Bundeskabinett ein Verbot für Werkverträge in der Fleischindustrie angekündigt. Diese Verträge sollen künftig bei Firmen der Fleischindustrie verboten werden, wenn die Mitarbeiterzahl von 50 Angestellten überschritten werde.
Die Satire-Sendung “ZDF heute-show” schrieb spaßeshalber folgendes: „Ab nächstem Jahr dürfen Fleischhandwerksbetriebe mit mehr als 49 Mitarbeitern keine Werkvertrags- oder Leiharbeiter mehr beschäftigen. Durchatmen in den kleinen neu gegründeten Tönnies-Familienbetrieben 1 bis 92871.”
Der Witz sollte nur einen Tag später von der Realität eingeholt werden. Denn Tönnies hat bereits auf das kommende Verbot reagiert und beim Amtsgericht Gütersloh 15 Tochterfirmen eintragen lassen, die unter dem Namen “Tönnies Production” laufen. Der Konzern selbst sagt dazu: „Wir haben die Töchter gegründet, um die Mitarbeiter bei 100-prozentigen Tochterunternehmen einzustellen”, so ein Tönnies-Sprecher im „Handelsblatt“. Natürlich gibt es eine Menge Bedenken. Warum überhaupt so ein Aufwand? Kritiker*innen befürchten, dass mit dieser Vorgehensweise das Bilden von Betriebsräten erschwert werden könnte oder andere Gesetzeslücken ausgenutzt werden können.
“Es wird der Fleischindustrie nicht gelingen, unser Gesetz zu umgehen. Es ist wasserdicht”, stellt Björn Böhning, Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) klar.
Steuerhinterziehung, verschwiegene Unternehmensbeteiligung, Verwicklungen in Cum-Ex, Preisabsprachen und Rassismus. Tönnies stolpert von einem Skandal in den nächsten. Es wäre nicht das erste Mal, dass Tönnies versucht, Gesetzeslücken auszunutzen, um Strafen und Kosten zu entgehen. Das Bundeskartellamt verhängte im Jahr 2014 eine Geldbuße in Höhe von 128 Millionen Euro wegen illegaler Preisabsprachen. Der Tönnies-Konzern konnte sich der Strafe entziehen, indem die betroffenen Tochterunternehmen aufgelöst wurden. Das Schlupfloch wurde später als „Wurstlücke“ bezeichnet.
Da kann man tatsächlich davon ausgehen, dass auch dieses mal alles versucht wird, größtmöglichen Profit zu schlagen, und damit den Arbeiter*innen das Leben schwer zu machen.
Meine persönliche Meinung dazu: Die Corona-Krise macht viele Missstände in Branchen sichtbar, die vorher gut aus der Öffentlichkeit verbannt werden konnten. Der öffentliche Druck und die Medienaufmerksamkeit offenbaren viele gesellschaftliche Probleme und soziale Ungerechtigkeiten. Probleme, die auch nicht durch etwas Applaus auf dem Balkon gelöst werden können.
Das Virus und die Gefahr, die auch die Politik erkannt hat, lösen eine Handlungsschnelle aus, die man sonst eher vermisst. Trotzdem ist die Entrüstung der Politik in kleinen Teilen scheinheilig. Die Zustände, die in den Schlachtbetrieben herrschen, sind auch ein Produkt von Politik und Lobbyarbeit. Warum muss immer eine Eskalationsstufe erreicht werden, damit Missstände sichtbar werden und gehandelt wird?
Die Fleischindustrie warnt beim kommenden Verbot für die Werkverträge übrigens vor steigenden Kosten für Fleisch. Sie sind so kurz davor, es zu verstehen.
QUELLEN:
Bundeskartellamt: Verfahren gegen Gesellschaften der ClemensTönnies-Gruppe eingestellt – Bußgelder in Höhe von 128 Mio. Euro entfallen in Folge von Umstrukturierungen
ARD: Forscher finden möglichen Superspreader // Tönnies-Mitarbeiter zu Unrecht in Quarantäne // Der krisenerprobte Fleischbaron // Der Schlachthof wird zum Politikum // Das Gesetz, das „aufräumen“ soll // Umgeht Tönnies die neuen Regelungen?
Twitter von Hubertus Heil, SPD
Redaktionsnetzwerk Deutschland: Kann Tönnies die neuen Regeln für die Fleischindustrie umgehen? // Das Elend der Tönnies-Arbeiter: Krank zur Arbeit und 200 Stunden für knapp 1200 Euro Netto-Lohn
WDR: Corona-Hotspot Tönnies: Umliegende Kreise in Warnstellung // Corona bei Tönnies: Virus kam von Kontakten zu Westfleisch // Kommentar: Laschets defekter Fettnäpfchen-Detektor
Süddeutsche Zeitung: Der Patron gibt auf
Frankfurter Rundschau: Tönnies-Mitarbeiter zu Unrecht in Quarantäne – War es Freiheitsberaubung?