Januar 2019 – Greta Thunberg ist auf dem Weg zum Weltwirtschaftsforum in Davos, auf der sie ihre bekannte „I want you to panic“-Rede halten wird. Aufs Flugzeug verzichtend, twittert sie ein Bild aus der Bahn, das eine Welle der Häme auslöst. PLASTIK????? Einwegbecher?!1? Und überhaupt Bananen im Winter? Wie kann man nur? “Doppelmoral”, “Scheinheiligkeit” – beim inszenierten Shitstorm ist alles dabei.
Februar 2023 – Die BILD-Zeitung fährt eine Kampagne gegen zwei Aktivist:innen, die nach Bali geflogen sind und das Gericht schwänzen und wirft ihnen Doppelmoral vor.
Juli 2023 – Der bekannte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber wird bei einem Inlandsflug “ertappt”, obwohl er selber ein Verbot für ebensolche Flüge gefordert hat.
Diese Schlagzeilen und die Empörung sind keine Einzelfälle. Menschen, die sich mehr oder weniger öffentlich für mehr Klimaschutz einsetzen, werden oft schärfer auf den Prüfstand gestellt als Menschen, denen das Thema egal ist. Im privaten Umfeld ist das nicht anders – zumindest bei mir. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich mich vor Menschen rechtfertigen muss, warum ich denn dieses und jenes Verhalten an den Tag lege, obwohl mir Klimaschutz doch so ein wichtiges Anliegen sei.
Von Januar bis August haben fast 3.5 Millionen Menschen Bali bereist. Wieso picken wir uns die zwei Menschen heraus, die sich bei der Letzten Generation engagieren? 6.7 Millionen Passagiere gab es im vergangenen Jahr bei Inlandsflügen in Deutschland. Warum wird nur über einen davon berichtet? Ja, Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigen oder sich aktivistisch engagieren, kommt wohl eine gewisse Vorbildfunktion zu. Ja, es kann verwirrend sein, wenn sich diese vermeintlichen Vorbilder entgegengesetzt ihrer Wertvorstellungen verhalten.
Bei den “Shitstorms” und der Berichterstattung über vermeintliche Doppelmoral scheint es mir jedoch eigentlich um etwas anderes zu gehen. Ich glaube, es ist manchmal leichter, die Krise auf Einzelpersonen oder individuelle Verantwortung abzuwälzen. Es ist leichter, Häme für die Menschen zu zeigen, die schon etwas tun und nicht zu 100% konsequent sind, als für diejenigen, die überhaupt nichts tun. Es ist leichter, einen vermeintlich perfekten Menschen zu enttarnen, als den Fokus auf sich selbst zu richten. Und das ist ein Problem.
Ja, individuelle Verantwortung ist wichtig. Aber ein zu 100% nachhaltiges Leben zu führen, das schafft nicht mal Greta Thunberg. Es ist in unserer Gesellschaft und unserem wirtschaftlichen System schlichtweg nicht möglich. Soll es dennoch wirklich einfacher sein, komplett rücksichtslos und dafür “authentisch” durch die Welt zu gehen, als bemüht und veränderungswillig, aber nicht fehlerlos? Darf ich mich nicht aktivistisch engagieren, bevor ich ein Klimaheiliger bin? Es wäre doch spannend, wenn diese Prämisse mal für Politiker:innen oder Unternehmer:innen gelten würde.
All diese Schuldzuweisungen lenken vom eigentlichen Kern ab: Wir stehen vor einer kollektiven Aufgabe, das klimaschädliche System zu hinterfragen und Veränderungen anzustreben. Es ist leicht, andere verantwortlich zu machen, doch ein echter Fortschritt erfordert ein Bewusstsein für unsere individuelle Rolle in diesem Prozess und den Willen zur kollektiven Veränderung – auch, wenn wir nicht fehlerlos sind.
Ich bin sehr gespannt auf eure Meinungen zu dem Thema. Wir wissen, dass “Perfektionismus” ein großes Thema in unserer Bubble ist und immer ein Spannungsfeld zwischen Anspruch und Ausrede besteht. Was sagt ihr dazu?
Warum bewerten wir Menschen stärker nach ihrem Handeln, wenn sie sich für mehr Klimaschutz engagieren?